Mahsa Ghafari über Force Majeure von Ulduz Ahmadzadeh

Mahsa Ghafari über Force Majeure von Ulduz Ahmadzadeh

Straßengeräusche, Hupen, Parolen und Applaus vermischt mit bedrohlichen Klängen tönen aus den Lautsprechern, als drei Performerinnen auf der Bühne zielgerichtet losschreiten, abrupt stehenbleiben, wie von etwas Unsichtbarem aufgehalten, dem sie jedoch gleich in Form einer Kampfpose die Stirn bieten. Immer schneller marschieren sie durcheinander, verkörpern Entschlossenheit und bauen eine Atmosphäre von Widerstand auf. Der Übergang in einen „Raghse Khanjar“, einem archaischen, rituellen Tanz aus dem Iran, der eigentlich Männern vorbehalten ist, ist fließend. Untermalt wird er von den Performerinnen durch laut in unterschiedlichen Sprachen skandierten Texten und vehementen Blicken. Eine Gänsehaut stellt sich spätestens dann ein, wenn sie auf dem Höhepunkt ihrer Entschlossenheit einen Kreis bilden und tanzend einen Schwur leisten. Geräusche vom Laden einer Waffe und Schüsse sorgen im Hintergrund für die Konfrontation mit Todesgefahr.

@Maximilian Pramatarov

Drei Lichtstreifen markieren enge Gefängniszellen und Wände zum symbolischen Dagegenrennen. Scheinbar von einer „höheren Macht“ (Force Majeure) durchflossen beginnen die gefangenen Körper zu vibrieren. Immer heftiger, als würden sie bewegt werden und verzweifelnd, als würden sie sich nicht bewegen dürfen. Eine fast unheimliche Transformation findet statt. Eine der Tänzerinnen, Cristina Sandino, übergibt sich beinahe in ihrer Zelle und verwandelt sich in ein enorm kraftvolles, wildes Wesen, das die Verzweiflung endgültig gegen bedingungslosen Widerstand eintauscht.

@Maximilian Pramatarov

In der nächsten Szene hat ihre Kollegin Desi Bonato ihre Kleidung gegen ein Korsett aus dünnen Metallstreifen eingetauscht, das einer Rüstung ähnelt und ein Eigenleben entwickelt. Mal würgt es sie, dann wird es zum Kopfschmuck, zerrt sie nach hinten. Bonato kämpft dagegen an,  arbeitet sich immer wieder vor und eignet sich den Panzer an, bewegt sich mit höchster Eleganz und verrenkt sich, legt ihn ab und scheint ihn für einen Moment mit dem ganzen Körper zu umhüllen als sie mit gespreizten Beinen davor sitzt wie eine Gebärende. Doch sie kriecht mit dem Kopf voran wieder hinein, wie in einem Kreislauf nimmt sie alles mit und gibt alles weiter, ihren Kampfgeist, ihre Überzeugungen, ihre Verzweiflung, ihre Leidenschaft, ihre Eleganz, ihr Trauma.

Zwei der Tänzerinnen gehen langsam um eine große, filigrane Holzkonstruktion im linken Bühnendrittel, die einem Ringelspiel ähnelt. Auf den drei „Sitzflächen“ befinden sich ein milchig-trüb gefrorener Eisblock, ein Menschenkopf aus Eis und ein gefrorener Pflanzenhaufen. Durch die in Sisyphusarbeit manipulierten Gewichte, die wieder und wieder umgehängt werden müssen, versetzen die Tänzerinnen das Konstrukt in Bewegung. Eine andächtige Stimmung wird wie ein fein gewebtes Netz im gesamten Raum wahrnehmbar, welches alles empfindsam registriert und durch Widerstand Gleichgewicht anstrebt.

Cut. Die drei Frauen stehen wieder eng zusammen, verkörpern Solidarität, richten einander auf, tragen sich gegenseitig, zerren einander weg, werden zu Gefängniswärterinnen. Willenlos und taub wirkt der nackte Körper von Magdalena Chowaniec in ihrer Mitte. Die anderen beiden bedienen sich ihrer Haut, ihres Fleisches immer übergriffiger und versuchen durch die Verletzung jeder körperlichen Grenze an ihre Würde und ihren Geist heranzukommen, um sie zu brechen.

Die Kombination aus Subtilität und Schonungslosigkeit in dieser szenischen Andeutung, lässt die ungeheure Dimension der physischen und sexuellen Gewalt in Gefängnissen nur erahnen.

Aus dem Off sind historische Informationen zu den ersten Exekutionen von Frauen im Iran zu hören sowie Stimmen der hinterbliebenen Kinder und die Worte ihrer Mütter aus Briefen, gesprochen von Emma Wiederhold: “So promise me to walk the streets that I used to love walking. Through fallen leaves under the trees and enjoy it, for me too. Laughter, contentment and the future, indeed life belongs to us. We want to dance in the streets. You will one day dance in the streets. It’s not an easy goal in a country where certain people like to ride on the shoulders of others.”

Ob es weh tut, ethisch zu handeln, fragt die Kinderstimme und lässt einen darüber nachdenken, was manche Menschen auf sich nehmen in ihrem Kampf.

Cristina singt ein spanisches Lied, “Duerme, Duerme… Mama va trabajar”, wird immer leiser und geht still zu Boden, die zwei anderen „Gefangenen“ gehen zu ihr und setzen sich neben ihren Körper, der sich reckt, halten ihre Arme, drücken ihren Körper nach unten und versuchen ihre Krämpfe zu lösen. Für ein paar Sekunden stirbt sie den Tod von Neda Agha Soltan[1] und das ins kollektive Gedächtnis der Iraner*innen eingebrannte Bild ihrer aufgerissenen Augen und dem blutüberströmten Gesicht kommt hoch.

@Maximilian Pramatarov

Alle drei gehen zu dem nach Gleichgewicht suchenden Eisenkonstrukt, waschen ihre Gesichter mit dem geschmolzenen Wasser des Eiskopfes, der verronnenen Milch und dem Wasser der Pflanzen, die aus dem Eis zum Vorschein kommen. Es hat wieder etwas rituelles, das heilt, stärkt und den erbrachten Opfern Respekt zollt, um dann weiterzuziehen in den nächsten Kampf. “You cannot save all the drowning children.”, spricht die Kinderstimme, “You have to find someone, who is going to stop the person, that is throwing the children [into the river].”[2]

Die Choreografin Ulduz Ahmadzadeh zeigt uns in Force Majeure den inneren Zustand eines Körpers in Widerstand und Gefangenschaft. Durch die drei Tänzerinnen vermitteln sich Begriffe wie Angst, Trauma, Resilienz, Ethik und unmittelbar, sichtbar und vor allem fühlbar. Die immer wieder eingesprochenen Texte, die Ahmadzadeh und ihre Dramaturgin Johanna Figl in umfangreichen Recherchen gesammelt haben, verstärken die Beklemmung, die sich trotz der Vermittlung der Performance über Video einstellt. Es geht dabei nicht darum, Antworten auf die schwierigsten Fragen zu entwerfen und auch gar nicht so sehr um die großen Fragen an sich, als vielmehr darum, das Erlebte in solchen Situationen darzustellen: die innere Zerrissenheit, die gewählten Kämpfe und jene, die Frau führen muss, weil sie nicht anders kann, weil sie nach einem Gleichgewicht sucht, das hier dem Begriff der Gerechtigkeit ein objektives Fundament bietet. Sie zeigt, was diese Kämpfe mit unserem Inneren machen und ihre somatische Komponente. “Wir machen unser kollektives Trauma sichtbar, um zu transformieren.”, Ulduz Ahmadzadeh.

[1] Neda Agha Soltan war eine Iranerin, die 2009 auf einer Demonstration in Teheran angeschossen wurde. Das Video ihres Todes ging um die Welt und war einer der Auslöser für die großen Proteste – auch grüne Bewegung genannt.
[2] „Stell dir vor, du siehst ein Kind das nicht schwimmen kann in einem Fluss ertrinken, du springst natürlich hinein und rettest es und würdest das wieder und wieder tun. Aber du siehst irgendwann, es sind so viele Kinder, dass du nicht alle retten kannst. Also musst du herausfinden, wer sie hineinschmeißt und diese Person aufhalten.“ Zitat aus Force Majeure– ursprünglich von einer Bahai Frau, die fünf Jahre im Iran inhaftiert war.

Mahsa Ghafari ist Menschenrechtsaktivistin und Schauspielerin. Sie setzte sich bereits im Laufe ihres Studiums (Internationale Entwicklung) in mehreren zivilgesellschaftlichen Initiativen für soziale Gerechtigkeit und gegen rassistische und geschlechterspezifische Diskriminierung ein. Unter anderem gründete sie den Verein Flucht nach Vorn mit, der 2015 mit dem Ute Bock Preis für Zivilcourage gewürdigt wurde, rief 2017 gemeinsam mit Mitstreiterinnen zum Gobal Women’s Strike auf und nahm in den letzten Jahren an zahlreichen politischen Diskussionen teil.